Schrei nach Frieden – Friedensbewegte in Afghanistan
Friedensbewegte in Afghanistan
Ein Schrei nach Frieden
Impressionen einer Reise
Wir haben es gewagt (trotz vieler Warnungen) und besuchten vom 16.05. bis 23.05.2013 Kabul.
Wir:
Reiner Braun, Geschäftsführer der IALANA
Christine Hoffmann, Generalsekretärin von pax christi
Otto Jäckel, Vorsitzender der IALANA
Wahida Kabir, Kommission für Frieden und Freiheit in Afghanistan
Kristine Karch, Mitglied im Koordinierungskreis des deutsch-afghanischen Friedensnetzwerkes
Karim Popal, deutsch-afghanischer Anwalt, der die Opfer des Luftangriffs auf Kundus vor Gericht vertritt und
Farida Seleman, Afghanischer Kulturverein Freiburg
Wir kennen uns seit einigen Jahren aus gemeinsamen Aktivitäten für den Frieden und aus Protesten gegen die Stationierung der Nato Truppen in Afghanistan.
Wir landeten in einer Stadt des Krieges, freie Bewegung oder gar „sight seeing“ in einer vom Krieg zerstörten und vom Terror regierten Stadt sind nicht möglich. Die Autos wurden zum wichtigsten Fortbewegungsmittel und waren die Grundlage einer ambivalenten Sicherheit. Die Umsicht unserer Fahrer war unsere wichtigste „Sicherheitsgarantie“. Ein wohlbehüteter Ausflug in die Umgebung von Kabul nach Pahgman vervollständigt das Bild der allgemeinen Unsicherheit.
Kabul, eine Stadt mit fast 7 Millionen Einwohnern ist eine in tausende kleine Einheiten geteilte militärische Festung, in der jedes öffentliche Gebäude und jeder Straßenzug ein von Militär und Polizei bewachter Komplex ist. Die Angst vor Anschlägen ist allgegenwärtig: Anschläge der Taliban, militärische Aktionen (und Aggressionen) der NATO-Truppen sowie kriegerisches Handeln und Gewalt der afghanischen Soldaten und Polizisten gegen die eigene Bevölkerung und insbesondere gegen Frauen. Eine tiefe Verunsicherung beherrscht die Atmosphäre in einer Stadt, die nie für diese Masse von Menschen gebaut wurde. Die sanitären Verhältnisse, das Straßennetz und die Wasserversorgung sind in einem katastrophalen Zustand, das Gesundheitssystem armselig, 120.000 Bettler streunen durch die Stadt auf der Suche nach Nahrung, Flüchtlinge suchen verzweifelt eine Bleibe. Die Flüchtlingscamps sind kaum zu beschreibende Slums und die Arbeitslosigkeit von bis zu 80% bei den Jugendlichen prägen das Bild einer ganz jungen Gesellschaft. Der Eindruck permanenter Gewalt wollte bei uns nicht weichen. Stacheldraht ist allgegenwärtig, auch auf den traditionellen Mauern um die Häuser.
Das Gegenteil dieser Realität war unser „Guesthouse“. Zentral aber dennoch abgelegen, wohl beschützt in einer Seitenstraße gelegen, war es der Kleinod, die Erholung, und Platz der Diskussion für uns. Hier erfuhren wir, was traditionelle afghanische Gastfreundschaft bedeutet.
Die Tage waren voll mit Gesprächen. „Fact finding für den Frieden“ war unser Ziel, lernen und zuhören hatten wir uns als primäre Aufgabe gestellt.
Während unseres Besuches haben wir uns mit folgenden Organisationen und Institutionen getroffen:
- afghanische zivilgesellschaftliche Organisationen und Nichtregierungsorganisationen,
- Vertretern der Regierung
- Vertretern der islamischen und säkularen Opposition,
- Vertretern der Taliban,
- Repräsentanten verschiedener Wissenschaftsvereinigungen sowie
- dem Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Afghanistan.
Ein fest vereinbartes Gespräch mit Staatspräsident Karsai konnte wegen seines um zwei Tage verlängerten Indienbesuches nicht stattfinden. Ein Staatsbesuch, der in unseren Medien kaum Aufmerksamkeit gefunden hat, für die zukünftige afghanische (Sicherheits-)Politik aber von immenser Bedeutung war. Hier wurde auch über militärische Kooperationen verhandelt.
Ein umfassender, pluralistischer und vielfältiger Dialog mit den unterschiedlichsten sozialen und gesellschaftlichen Kräften war in einer Woche kaum möglich. Wir sind uns bewusst, dass auch wir nur einen Teil gesehen und gehört haben, und dass zu einem vollständigeren Blick ein längerer Aufenthalt notwendig gewesen wäre. Unsere afghanischen Kolleginnen und Kollegen (besonders Wahida Kabir und Karim Popal) haben unter Nutzung vielfältiger Verbindungen ein fast überdimensioniertes Programm auf die Beine gestellt. Dabei musste immer die Situation einer Stadt im Krieg, die Zerstörung der Infrastruktur und die Sicherheitslage berücksichtigt werden.
Wir waren am Abend von den vielen Begegnungen zerschlagen, voller neuer Informationen und oft auch emotional sehr betroffen und mitgenommen.
Wir möchten den Leserinnen und Lesern einen Überblick über unsere Gesprächspartner_innen geben. Diese werden im Folgenden in Stichworten und zufälliger zeitlicher Reihenfolge der Gespräche aufgeführt.
- Ansefa Koka, Richterin am obersten Gericht Afghanistan (18.05. 12:00)
- Professoren der Salem Universität und Council (18.05. 14:30)
- Afghanische islamische medizinische Gesellschaft (18.05. 18:00)
- Faruq Azam, Geistlicher mit Gesprächskontakten zu allen Seiten (Mediator) (19.05. 10:00)
- Gespräch mit der (Wissenschaftler) Reformvereinigung (19.05.)
- Verein für die Rechte der politischen Gefangenen (19.05. 18:00)
- Nationale Einheitsfront gegen die Stationierung fremder Truppen nach 2014 (20.05. 11:30)
- Solidaritätspartei (20.05. 13:00)
- Wahil-Ahmad Mutawakal, ehemaliger Außenminister der Taliban (20.05. 16:00)
10. Dachorganisation der Zivilgesellschaft Afghanistan (20.05. 18:00)
11. Botschafter der Bundesrepublik Deutschland (21.05 15:30)
12. Mullah Saeef, Pressesprecher der Taliban Regierung von 2001 (22.05 11:00)
13. Gespräch mit Medica Afghanistan ( 22.05. 12:30)
14. Gespräch mit Afghanistan Analyst Network
15. Gespräch mit Professorinnen und Professoren der schiitischen Universität
16. Center for Strategic and Regional Studies
17. Auswärtiges Amt der Islamischen Republik Afghanistan
18. Minister im Präsidialamt
19. Afghanischen Frauenorganisationen und Vereinen
Wir haben keine Kommuniqués der Gespräche verfasst und keine Zusammenfassung zur Diskussion gestellt. Von daher sind die folgenden Bewertungen nur unsere. Sie stehen zur Diskussion und sollen durchaus zum Meinungsstreit anregen.
Die Afghan_innen sind zutiefst müde vom Krieg, sie sind des Krieges abgrundtief überdrüssig.
Diese Müdigkeit bezieht sich im Wesentlichen auf vier zentrale Punkte:
- Die permanente Fremdbestimmtheit,
die durch die fremden Truppen (aus 34 Nationen) ausgelöst wird. Sie können nicht über sich, ihre Zukunft und die politische Entwicklung entscheiden, stattdessen wird für sie entschieden. Alle wesentlichen Entscheidungen werden durch die Besatzungstruppen und die von ihr abhängigen Regierung gefällt. Diese sind die Herren im Lande und jede/r Kabuler_in sieht und erlebt es täglich. - Die tägliche und nächtliche Gewalt,
die im wesentlichen Zivilisten trifft. Sind es am Tag die Anschläge der Taliban (aber auch die selbstherrliche Brutalität besonders der US-Truppen), sind es in der Nacht Armee und Polizei des Regimes, die die Menschen terrorisieren und im Besonderen permanent Gewalt gegen Frauen ausüben. Dazwischen die Besatzungssoldaten und die vielfältigen Kriegseinsätze. Es gab kein Gespräch, in dem nicht über Angriffe auf Hochzeiten, Schulkinder, Unbeteiligte, Bauern etc. durch die NATO-Truppen berichtet wurde. Keine Familie, die nicht persönlich Opfer durch die Besatzer zu beklagen hat. Unbeschreiblich sind auch die Berichte über die Folterungen und permanenten Misshandlungen. - Müde von den sich immer wiederholenden Versprechungen der Besatzer und den damit verbundenen Regierungen, die im totalen Widerspruch zum tagtäglich erlebten erbärmlichen Leben stehen.
Selbst minimale Verbesserungen, z. B der Frauenrechte und der Bildung (zumindest in Kabul) werden hinterfragt: Kann das das Ergebnis von 12 Jahren Krieg und über 400 Milliarden US Dollar Ausgaben sein? Einen Überblick über die nach wie vor katastrophalen Lebensbedingungen der Menschen gibt der Human Development Index, veröffentlicht im März 2013, basierend auf den Zahlen von 2005 bis 2012. Bei dieser UN Untersuchung befindet sich Afghanistan auf dem 175. Platz von 187 untersuchten Ländern. Verschärft wird die Aussage des Berichtes noch dadurch, dass Afghanistan gegenüber dem vorherigen Bericht um 3 Plätze nach hinten gerutscht ist. Was wurde dem Land nicht alles versprochen: die Schweiz Asiens, Wasser, Schulen, Investitionen, etc. Diese Lügen machen müde, aber auch unheimlich wütend. - Die kaum vorstellbare Korruption.
Korruption hat es in diesem Land, wie auch in vielen anderen der Welt, immer gegeben. Es handelt sich um eine „institutionelle Korruption“, in der die Institutionen von oben nach unten korrumpiert werden (mit Milliarden Steuergeldern aus den NATO Ländern) und die Institutionen selbst weiter korrumpieren, bis am Ende jede/r Einzelne sich seinen „Backschisch“ organisiert hat. Der Fisch, der am Kopf zu stinken anfängt, ist die NATO und hier besonders die USA. Der Kriegsverbrecher Dostum erhält laut New York Times pro Monat 100.000 Dollar von der CIA. Die CIA schleppt über Jahre Koffer voller Geld in den Präsidentenpalast. Die Liste ließe sich seitenlang fortsetzen, bis zum Polizisten, der das angehaltene Auto erst weiterfahren lässt, wenn in dem zu kontrollierenden Dokument ein Geldschein liegt. Die Korruption macht auch nicht vor den Parlamentarier_innen halt, die oft ihre Stimme von entsprechenden Zahlungen abhängig machen.
Frauen sind nach wie vor besonders Betroffen, sie sind oft „Freiwild“. Die Rate der Vergewaltigungen in den Familien und der Gesellschaft ist unbeschreiblich hoch. Häufig wird den Frauen die Schuld als „moralisches Verbrechen“ selbst zugeschoben (siehe u.a. den aktuellen Bericht von Human Rights Watch). Im Gefängnis ist die Behandlung der Frauen besonders erniedrigend. Wenn die Intervention jemals für Frauenrechte geführt worden wäre, hätte die NATO nach 12 Jahren vollständig versagt.
Neben dieser Müdigkeit gibt es aber auch eine zunehmende Politisierung. Es wird nicht nur geschimpft und geklagt, sondern ebenfalls über Lösungen und Auswege diskutiert, ja philosophiert. Es ist Tagesgespräch. Gerade jetzt vor dem für vieles wegweisenden Jahr 2014 gewinnen diese Debatten eine neue Dimension. Das können wir nur für „Kabul“ sagen, das kann und mag in der Provinz noch ganz anders sein.
Viele sehen ein „window of opportunity“ – wie lange und wie offen das Fenster ist, ist Bestandteil der Diskussionen.
Welche Kernpunkte einer möglichen Lösung hin zu einem Frieden kristallisieren sich heraus oder vorsichtiger gesagt: Was haben wir von Afghanistan mitgebracht?
Es kann nur eine afghanische Lösung geben. Diese ist das absolute Muss und wurde von keinem unserer afghanischen Gesprächspartner infrage gestellt. Diese hat Voraussetzungen und Bedingungen, sowie politische Konsequenzen. Wiederholt wurde auf die 4.000-jährige Geschichte des Landes verwiesen, in der Okkupationen immer wieder scheiterten.
- Voraussetzung: Alle relevanten afghanischen politischen Kräfte müssen sich zusammenfinden, eine gemeinsame Friedensprogrammatik entwickeln und eine Regierung der nationalen Einheit bilden als Übergangs- bzw. Transformationsregierung. Dazu gehören die jetzige Regierung, die sich heute in Opposition befindlichen islamischen Kreise, einschließlich der Kräfte um Hekmatja (der ja auch in der Regierung ist), die Taliban und zivilgesellschaftliche Kreise aus islamisch orientierter Wissenschaft. Es handelt sich um eine „islamische Koalition“. Die sehr kleine säkulare Opposition spielt in diesen politischen Überlegungen kaum oder gar keine Rolle. Eine politische Linke ist zwar existent (zersplittert), aber noch lange kein politischer Faktor in dem Land. Die Geschichte ihres politischen Agierens im Zusammenhang mit dem Putsch 1978 und der Übernahme der Regierung ist noch lange nicht aufgearbeitet. Auch diese Regierungszeit war durch Diktatur und politischen Terror geprägt. Veränderungen – seien sie auch noch so positiv – können nicht ohne oder sogar gegen den Willen der Menschen eines Landes realisiert werden.
Die säkularen Kräfte, einschließlich der Linken und andere Religionen, müssen aber anerkannte demokratische Minderheitsrechte bekommen.
Diese nationale Koalition scheint möglich, wenn sie auch kompliziert ist. Schon heute gibt es z.B. in der nationalen Front eine vielfältige und breite Zusammenarbeit. Eine Wiederholung des Krieges von 1992 scheint ausgeschlossen, 30 Jahre Krieg haben tiefe Spuren bei allen hinterlassen. Ein erneuter Bruderkrieg ist mehr Propaganda der NATO, der Warlords und einiger internationaler Nicht-Regierungsorganisationen zur Legitimierung ihres Daseins. Auch der angebliche drohende Verfall entlang ethnischer und Stammeszugehörigkeiten ist heute mehr als in den 90er Jahren ein importiertes denn ein afghanisches Problem. Ob es klug ist, die Stammeszugehörigkeit des Präsidenten und des Stellvertretenden Präsidenten in der Verfassung festzuschreiben sei dahin gestellt.
Wahlen, die halbwegs fair und frei sind, sind erst am Ende einer Transformationsperiode vorstellbar. Wahlen jetzt und unter den herrschenden Bedingungen sind erneut der Korruption und dem Krieg ausgesetzt und müssen in dem gleichen Desaster enden wie die letzten beiden.
- Bedingung für eine solche Übereinkunft (Übergangsregierung und Transformationsprozess) ist die Anerkennung der Frauen- und Menschenrechte. Dazu sind alle beteiligten Kräfte bereit, auch die Taliban und andere islamische Kräfte. Die Vertreter der Taliban, mit denen wir geredet haben, formulierten dieses durchaus historisch selbstkritisch und klar. Sie haben Lehren aus den letzten 12 Jahren gezogen und haben dies auch schon bewiesen. So gibt es – von ihnen bezahlt – bereits erste Mädchenschulen sowie eine Universität mit Frauen in Gebieten, in denen sie die politische Oberhoheit haben. Auch hier sind, bei allen Widersprüchen, deutliche positive Bewegungen erkennbar.
- Ein Regierungsprogramm einer „nationalen Einheitsregierung“ hat einen unverzichtbaren Punkt, den alle uns gegenüber betont haben: Bildung für Mädchen und Jungen, auch an den Universitäten. Die Analphabetenrate liegt nach wie vor bei 80%. Ansonsten kann es nur ein Programm sein, scheinbar unlösbares lösbar zu machen. Das Programm beinhaltet den Einstieg in eine nationale (kleinteilige) Ökonomie und ökologische Maßnahmen und Sicherungen der Ernährungssouveränität durch die (Wieder-)Belebung der Landwirtschaft (mit Zöllen). Bildung und Ausbildung für alle ist vielleicht die Herausforderung. Salopp formuliert: Nichtwissen ist der Feind aller Entwicklung.
Ein Versöhnungsprozess gehört unabdingbar dazu. Dieser wird langfristig und kompliziert sein: Opfer und Täter sind oft schwer zu trennen, die Guten bzw. die Bösen existieren als Gegensatz kaum.
Voraussetzung und Bedingung sine qua non ist der vollständige Abzug aller ausländischen Truppen, um einen Weg hin zum Frieden zu öffnen. Alle Oppositionskräfte, mit denen wir sprachen, wollen und fordern diesen Abzug. Selbst die Karsai Regierung beginnt zu begreifen, dass ein Friedensprozess ohne Abzug nicht denkbar ist. In einer „Fatwa“ wurde dieses Ziel nach einer intensiven Diskussion festgeschrieben und veröffentlicht.
Die NATO und deren Regierungen sind auch nach 2014 das Haupthindernis für Frieden, denn nicht der vollständige Abzug sondern die Reduzierung der Truppen steht auf ihrer Tagesordnung.
Es gibt nur eine afghanische Lösung ohne Interventionstruppen oder eine Fortsetzung des Krieges. Die überwältigende Stimmung der Menschen, ihre Gefühle (sofern erkennbar) und die gesellschaftlichen Debatten und Positionen stehen hinter dieser Forderung. Es ist wahrscheinlich nicht übertrieben zu sagen: Dies ist common sense. Die Menschen sind der Fremdbestimmung überdrüssig. Ein fremdbestimmtes System, das ihnen von außen (ungefragt) aufgezwungen wird und keine Rücksicht auf ihre Traditionen und Erfahrungen nimmt, stößt auf eine breite Ablehnung. (Berechtigtes) Misstrauen über nicht erfüllte Vereinbarungen und gebrochene Versprechen (blühende Landschaften von Kanzler Kohl ist dagegen nur ein kleiner Patzer gewesen) prägen die Grundüberzeugung, es gibt nur eine afghanische Lösung durch die Afghan_innen selbst.
Sorgen, die zugespitzt immer wieder in dem Satz ausgedrückt werden: „Dann droht der Bürgerkrieg“, sind wohl eher die Argumente der NATO, der Warlords (kann irgendjemand glauben, dass diese Milliardäre mit den Konten in Dubai/Katar wieder in die Berge ziehen, um zu kämpfen?) und auch einiger internationaler Nichtregierungsorganisationen, die von der jetzigen Situation profitieren, als die Ängste der Bevölkerung. Diese hat Angst vor dem täglich erlebten Krieg und sehnt sich nach einer Alternative zur Fremdbestimmtheit.
Die reale Gefahr ist eine andere: Wenn es nicht zum Abzug kommt, gibt es höchstwahrscheinlich einen Aufstand der Bevölkerung gegen die Besatzer – blutig, chaotisch und grausam. Wir haben unterschiedliche Meinungen darüber gehört, wie nahe wir dieser Situation stehen. Zugespitzt: Die Existenz der NATO-Truppen treibt dieses Land in fortgesetzte und zugespitzte kriegerische Auseinandersetzungen. Immer wieder haben wir den Satz gehört: die NATO stärkt die Kriegsverbrecher.
Der Weg zum Frieden kann in jedem Fall nur mit dem Abzug der Interventionstruppen eröffnet werden. Übergangsszenarien mit der Stationierung mehr unabhängiger, aus islamischen Ländern kommenden, Blauhelmen (nach Chapter 6) sind in der Diskussion und können den Friedensprozess – auch psychologisch – positiv beeinflussen. Eine Entmilitarisierung der afghanischen Truppen/Polizisten muss diesen Prozess begleiten.
Der Friedensprozess muss in eine regionale Lösung eingebettet werden. Zu viele unterschiedliche, auch gegensätzliche Interessen der verschiedenen Nachbarn sollten in einem Prozess, vergleichbar des KSZE-Prozesses in den 70er Jahren in Europa, integriert werden. Ausgleich und Kooperation sollten die Diskussionen bestimmen – ein ebenfalls sicher nicht einfacher, aber unverzichtbarer Prozess. Hier könnte die UN eine positive, gestaltende Rolle spielen.
Der Einstieg in den Friedensprozess könnte (ja eigentlich muss nach 30 Jahren Krieg) ein Waffenstillstand sein!
Ein Problem des zukünftigen Friedensprozesses (das wir sehen) ist, dass die, die für die Situation der letzten 20 Jahre mitverantwortlich sind, auch die sein sollen, die Afghanistan zum Frieden führen. Ein Generationswechsel zu der Jugend, die ansonsten das Land so bestimmen, und zu den Frauen, die die Lasten des Krieges am meisten tragen, ist leider nicht erkennbar, aber notwendig. Dies wird durch die traditionelle gesellschaftliche Stellung der Alten erschwert. Ein „afghanischer Frühling“ scheint leider noch fern. Es gibt eine afghanische (wir meinen nicht, die der internationalen NGOs) Zivilgesellschaft in vielen Bereichen (Bildung, Wissenschaft, Medizin, Frauen, auch ein wenig Frieden) und diese ist auch teilweise koordiniert und vernetzt. Die Federation of Afghanistan Cilvil Society spielt dabei eine wichtige Rolle.
Ein Tag nachdem wir zurückgekehrt waren, gab es keine 500 m von unserem Quartier entfernt, einen militärischen Angriff und eine Bombenattacke mit wieder mehr als 10 Toten. Was zeigt deutlicher als dieser Anschlag, dass wir alles für den Frieden tun müssen.
Die Kontroverse um die Zukunft Afghanistans hat auch die NATO und die westlichen Regierungen erreicht. Die Lage wird unterschiedlich beurteilt. Der Widerstand gegen die Drohnenpolitik „target killing“ wächst nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Politik. Es ist mehr als zweifelhaft, ob Frankreich, Kanada und die Niederlande sich weiterhin mit Truppen beteiligen werden. Die Kontroversen sind so tief, dass der für Mitte Juno geplante NATO-Gipfel auf unbestimmte Zeiten verschoben werden musste. Die Karsai Regierung versucht durch die Intensivierung ihrer Zusammenarbeit u.a. mit Indien, ihren Spielraum zu erweitern und Eigenständigkeit zu dokumentieren. Deutschland ist Vorreiter der Fortsetzung der Besatzung. Der Erklärung de Maizaires mit 600-800 Truppen im Land zu bleiben, ist bisher kein anderes Land gefolgt. Die USA verhandeln über 9-12 Stützpunkte mit der Karsai-Regierung. Richtig bleibt die grundlegende Aussage unserer Protestaktionen von Petersberg 2: Sie reden vom Frieden und sie führen Krieg!
Die Unterstützung einer friedlichen Entwicklung aus dem Ausland, die dann vielleicht auch wirklich Aufbau genannt werden kann, sollte dezentralisiert und projektorientierter fortgesetzt werden. Es gibt viele Beispiele realer und positiver Hilfe. Trotzdem bleibt die Frage: Wo sind die Milliarden, ja hunderte Milliarden, die „zivil“ nach Afghanistan geflossen sind, geblieben? Ein Teil der Antwort ist leider auch, dass sie die Warlords gestärkt, die Korruption und Drogenökonomie gefördert, die Preise auf dem Wohnungsmarkt verdorben und das gigantische Verwaltungs- und Kontrollsystem internationaler Nichtregierungsorganisationen gefüttert haben. Es müssen die Grundsätze gelten: Die Afghanen formulieren, was sie benötigen und es geht um Hilfe zur Selbsthilfe und nicht um Wirtschaftsförderung für den Norden. Gerade bei Geldern für Afghanistan ist weniger (für ein Projekt) oft mehr.
Unsere Aufgabe bleibt, die weitere intensive öffentliche Delegitimierung der Intervention der Bundeswehr in Afghanistan und ihr Handeln als gegen den Frieden und das Völkerrecht gerichtete militärische Aggression kenntlich zu machen.
„Bring the troops home“ ist der Ruf der internationalen Friedensbewegungen, er muss nicht nur bei uns lauter werden.
Reiner Braun und Kristine Karch Berlin, den 26.05.2013
Hier ein Link zu Fotos von der Reise:
http://www.flickr.com/photos/95853500@N06/sets/72157633746043592/